Liebe Leser,

nachdem wir nun die Begrüßung hinter uns haben, kommen wir zum ersten ernsteren Gespräch unter vier Augen:

Mehr als 50% aller Interaktionen, die mit der Entgegennahme von Büchern zu tun haben, werden von folgenden Sätzen begleitet:

„Wissen Sie, die Bücher hier sind doch einfach zu schade zum Wegschmeißen.“

Oder die dramaturgisch etwas unerhörtere Selbstbehauptung: „ICH kann einfach keine Bücher wegschmeißen!“

Diese (Vor-)Sätze sind moralisch durchaus löblich, finden grundsätzlich meine Zustimmung und in den meisten Fällen auch meine helfende Hand – sofern die Bücher noch in Ordnung sind. Doch leider werden diese Sätze manchmal mit folgenden Bemerkungen ergänzt, die mich schließlich dazu veranlasst haben, diesen Artikel zu schreiben. Lesen Sie bitte folgende Aussagen in abfälligem, gerne auch etwas aggressiveren Ton:

„Außerdem habe ich ‘gar keine Zeit’ mehr zum Lesen und meine Kinder interessieren sich auch überhaupt nicht für Bücher! Im Grunde interessiert sich doch auch gar keiner mehr für Bücher, wenn man ehrlich ist!“

Aha! Da haben wir es! Ist es so? Ich würde sagen, im Sport gäbe es nun die “Rote Karte wegen Nachtretens”.

Liebe Kollegen da draußen: An dieser Stelle möchte ich Sie fragen, was Sie darauf in der Regel entgegnen?
„Ach, das ist aber schade?“ oder „Naja, ich finde bestimmt jemanden anderen für diese (schönen) Bände“? (Jaja…).

Ill. v. T. Johannot in: Musset, Voyage ou il vous plaira, Paris 1843

Wenn Sie Zeit und Lust haben, fragen Sie doch einfach mal folgendes zurück:

Interessant – aber wenn Sie oder Ihre Kinder nicht (mehr) lesen, woher bilden Sie sich dann insgesamt ihre Meinung?”

Die Antwort auf jene Fragen lautet dann (zwangsweise) Fernsehen, Internet, „Freunde“, Zeitung – wenn man noch im letzten Moment sein Gesicht als denkender Mensch wahren will. Doch reicht das?
Meist folgt auf diese entlarvend-ernüchternde Selbsterkenntnis der unmittelbare Gegenangriff:

„Naja, wissen Sie, ob mein Sohn Homer oder Shakespeare gelesen hat, oder nicht, spielt doch auch eigentlich überhaupt keine Rolle. Und Gedichtinterpretation in der Schule ist reine Zeitverschwendung, genau wie Schönschreiben – das braucht man doch nie mehr im realen Leben und bringt einem überhaupt nichts!“ (abwertende Handbewegung dazu denken)

An dieser Stelle möchte ich gerne den kompletten Film anhalten und um Ihre Aufmerksamkeit bitten:

Ja, zugegeben hat die Literatur in unserer Gesellschaft ein mitunter versnobtes Image. Denn wer kennt sie nicht, diese auf Partys mit (Oscar Wilde-)Zitaten um sich schmeißenden Spießer? Dass Literatur doch zur Bildung und zum guten Ton gehöre und deren Unkenntnis kultureller Ignoranz gleichkommt. Faust nie gelesen? Die Glocke nie auswendig gelernt? Bei Heine reichts nur bis „Denk ich an Deutschland in der Nacht…“? Geh‘ mir aus der Sonne.

Ich gebe ferner zu: Wenn ausschließlich der kulturell-geschichtliche Faktor für das Lesen von Literatur wichtig wäre, nur um irgendwo dazuzugehören, würde ich wahrscheinlich selbst Abstand nehmen und meine Zeit anderweitig vergeuden. Mein Ego muss bei diesem Zirkus nicht mit machen. Ich würde daher wohl genauso eines Tages meine von der Schule oder den Eltern zwangsweise angeschafften Reclamhefte und Erbstücke des Buchclubs einsammeln, dem nächsten Antiquar bringen und ihm eine ähnliche Szene machen.

Daher möchte ich gerne ein anderes Motiv ins Spiel bringen, was ich selbst an Literatur schätze, und was Lesen also meines Erachtens für Menschen „bringt“:

Grundsätzlich lesen wir ja zur Unterhaltung, und um dabei unseren geistigen Zustand zu erweitern. Doch was heißt das?

Man könnte es doch so beschreiben:

Lesen stellt einen in der Tiefe nahezu beispiellosen Zugang zu den Gefühlen, den Entdeckungen, der Weisheit, zu den Fehlern und Irrtümern und vor allem zum Leben der Vergangenheit, anderer Zeiten, anderer Menschen dar.

Bravo!

Doch bevor mich jetzt einige von Ihnen mit „Buh-“, „Langweiler-“ und „Selber-Spießer“-Rufen von der Bühne jagen wollen, lassen Sie sich gesagt sein, dass dies ein absolut nicht zu unterschätzendes Phänomen ist – liebe Freunde des Dschungelcamps und der seichten Unterhaltung. (diese Anrede gilt den Rufern)

In unseren eigenen Leben und der eigenen Gegenwart sind wir nun einmal fest eingesperrt, und wir sind im Wesentlichen dazu verdammt, die Welt auch nur mit unserer eigenen Erfahrung zu sehen. Literatur bietet daher die Gelegenheit, stellvertretende Erfahrungen zu machen und tatsächlich etwas vom Leben anderer zu erfahren.
Natürlich, selbiges versuchen wir genauso während eines Gesprächs mit der eigenen Oma – was an sich schon nicht immer einfach sein mag. Und ja, in der Literatur ist es auch nicht immer einfach. Aber die zwischenmenschliche Erfahrung kommt immerhin mit einem anderen Preisschild daher.

Insofern, und liebe vielleicht ebenso anwesenden „Meine-Kinder-interessieren-sich-aber-nicht-für-Bücher-und-wenn-ich-ehrlich-bin-hab-ich-eigentlich-auch-besseres-zu-tun-also-was-soll-das-alles“-Fraktion:
Mit Fernsehen, Internet und Zeitung allein kann auf Dauer keine gesunde emotionale Intelligenz gedeihen. Wenn einem heutzutage so viel externer Lärm, Unfug und Ärger zugemutet wird, sind die Gedankengänge und Emotionen anderer Menschen aus anderen Zeiten eine wahre Goldgrube, um resilient zu bleiben und zu wachsen, glauben Sie mir. Sie werden Ihre geistig-emotionalen Fähigkeiten mit guter Literatur wie mit keinem anderen Medium auf das Umfangreichste schulen können und das Leben nach und nach ein wenig weiser, gelassener und empathischer betrachten.

Wenn Sie allerdings weiterhin fragen, wozu man denn diesen emotionalen Intelligenzquatsch überhaupt bräuchte, denn „Man merkt doch, wenn der Nachbar meckert und dass der neue Bundeskanzler ein Knallkopf ist, der nur Mist macht – da brauch‘ ich doch kein Buch lesen. Das ist doch alles überbewertet*!“, dann ersparen Sie sich doch bitte beim nächsten Mal auch den, in diesem Falle scheinheiligen, Spruch „Ach, ich kann einfach keine Bücher wegschmeißen!“ Denn natürlich können Sie das – nur zu.

Aber halt: falls es sich nicht ausschließlich um Buchclubausgaben handelt, schaue ich auch gerne nochmal drüber.

Sebastian Eichenberg

*Zufällig bin ich am Sonntag bei einem Quiz auf folgende Frage gestoßen:
Wie viel Prozent der Deutschen antwortete 2009 auf die Frage, ob Literatur, Kunst und Theater selbstverständlich zum Leben gehören, mit „Trifft voll und ganz zu“?

a) 6 %   b) 20 %   c) 44 %   d) 65 %

Leider weiß ich nicht, wer diese Umfrage und wie in Auftrag gegeben hat. Und wahrscheinlich müsste man auch, 13 Jahre später, bei der richtigen Antwort weitere Prozentpunkte abziehen.
Doch was meinen Sie, wie lautet die Antwort?