Liebe Leser,

frisch zum Sommeranfang traf ich kürzlich von unserer kleinen 4-tägigen Reise aus Weimar wieder in meinem Dorfe ein.

„Unserer“ Reise? Aber ja: es war die 121. Jahresversammlung der „Gesellschaft der Bibliophilen“, und Weimar und Altenburg stand dieses Jahr auf dem Programm.

Klein aber fein: Rokoko-Saal der Anna Amalia Bibliothek

Daher zunächst ein wenig angebrachte Angeberei: Wir durften u.a. exklusive Führungen (geleitet natürlich durch die jeweiligen Direktoren persönlich) durch das Goethe-Schiller-Archiv, die Bauhaus-Universität, Bertuchhaus, Otto-Dorfner-Werkstatt, Anna-Amalia-Bibliothek, das Bücherzimmer im
Schloss Altenburg usw. nicht nur besuchen, sondern auch besichtigen und erfahren.
Zu unserem traditionellen samstäglichen Festabend hatten wir als Gast die Präsidentin der Klassik-Stiftung-Weimar (Frau Dr. Lorenz) und just vor unserem sonntäglichen Festvortrag (gehalten von Herrn Dr. Laube, Direktor der Anna-Amalia-Bibliothek) hielt zunächst der Weimarer Oberbürgermeister (Peter Kleine)
eine kurze Laudatio.

Sollten Sie, liebe Leser, solche Erlebnisse auch einmal in Zukunft infrage kommen, verweise ich gerne für weitere Details auf die Homepage der Gesellschaft unter www.bibliophilie.de, oder
beachten Sie als Mitglied den kommenden Tagungsbericht in der Mitgliederzeitung „Wandelhalle“.

Einige Bilder von der Tagung finden Sie übrigens auch auf unserem Instagram-Profil unter antiquariat_hamecher.

Im Namen Goethes

In diesem Blog möchte ich aber auf etwas anderes hinaus. Denn wenn man es richtig angeht, kann so
eine Reise nach Weimar nämlich fast schon einem Trip auf dem Jakobsweg gleichkommen – sofern
man die Wanderung auf dem Jakobsweg vor allem als spirituelle Reise in sich selbst hinein begreift.
(siehe auch Hape Kerkeling: Ich bin dann mal weg, Malik 2006).

Was heißt das nun für Weimar? Natürlich sind all die Museen, Schaukästen, Bücher,
Originalartefakte, -häuser, und -möbel unserer großen Genies äußerst spannend anzuschauen.
Und von nahezu allen 48 Teilnehmern war niemand dabei, der Weimar und seine Schätze bisher noch nicht kannte (nochmal Angeber-Alarm: außer die Schätze natürlich, die exklusiv für uns geöffnet oder hervorgeholt wurden…).

In seiner großartigen Goethe-Biographie (Hanser, 2013) schreibt Safranski im Vorwort einige Worte, die ich mich seit dem Erscheinen des Buches vor neun Jahren seit jeher fasziniert und inspiriert haben:

„(…) Heute sind die Zeiten nicht günstig für die Entstehung von Individualität. Die Vernetzung aller mit allen ist die große Stunde des Konformismus. Goethe war mit dem gesellschaftlichen und kulturellen Leben seiner Zeit aufs innigste verbunden, aber er verstand es, ein Einzelner zu bleiben. Er machte es sich zum Grundsatz, nur so viel Welt in sich aufzunehmen, wie er auch verarbeiten konnte. Worauf er nicht irgendwie produktiv antworten konnte, das ging ihn nichts an, mit anderen Worten: Er konnte auch wunderbar ignorieren. Selbstverständlich mußte auch er an vielem Anteil nehmen, das er sich lieber erspart hätte. Aber so weit es an ihm lag, wollte er den Umfang seines Lebenskreises selbst bestimmen (…)“.

Im Westen viel Neues

Wie es der Zufall wollte, bin ich gestern zufällig auf folgende fun-facts gestoßen – die wir sicher alle eigentlich schon so grob geahnt haben; aber so schwarz auf weiß sieht die
Sache dann doch nochmal anders aus:

„(…)Mehr als die Hälfte unserer aktiven Tagesphase (nämlich 58%) beschäftigt sich heutzutage der Durchschnittsmensch mit Medien, die einen durchgängig mit Informationen beschallen.
Während am 18. Januar 1903 ein einziges Telegramm von den USA nach Großbritannien geschickt worden war, verhält es sich heute ein klein wenig anders:


Am 18. Juli 2017 geschah in nur 30 Sekunden folgendes auf unserer Welt:

  • 2.118.245 Facebook-User klickten auf Gefällt-Mir
  • 10.660.010 WhatsApp-Nachrichten wurden verschickt
  • 221.186 Tweets wurden bei Twitter veröffentlicht
  • 3.324.883 Videos wurden bei YouTube angesehen
  • 1.482.636 Likes wurden auf Instagram vergeben
  • 52.948 Menschen nutzten Snapchat
  • 1.588.760 Suchanfragen bei Google
  • 9.225 Matches bei Tinder
  • $277.207 in Zahlungen über PayPal
  • Kunden kauften bei Amazon für $105.190 ein
  • 66.943 Anrufe per Skype

Stellt sich die Frage: Können wir dieser Informationsflut noch gerecht werden? (…)“ (Ehlers, Rhetorik, books4success, 2. Aufl. 2019)

Wie gesagt, die Zahlen sprechen die Sprache von 30 Sekunden. Sie können ja gerne die Zahlen auf 24 Stunden hochrechnen und sie dann nochmal mit dem Tagesereignis des einen Telegramms aus den USA nach Großbritannien vergleichen. Ich spare mir das an dieser Stelle aber lieber.

Zurück zu Goethe: Safranski fügte seiner geschriebenen Goethe-Biographie den Untertitel „Kunstwerk des Lebens“ hinzu.

Und ja, bei diesen Zahlen scheint es heutzutage wirklich ein Kunstwerk zu sein, „wunderbar ignorieren“ zu können, wie es einst Goethe tat. Doch ist es wirklich so schwierig?

Für Weimar habe ich umso mehr gemerkt: Auf keinen Fall.

Das heutzutage verbreitete FOMO (Fear Of Missing Out) ist eigentlich das am leichtesten abzustellende Laster, das möglich ist. Probieren Sie es aus wie ich, falls Sie denken sollten, dass Sie überfordert, gestresst oder genervt sind oder die falschen Freunde haben. Bestimmen Sie Ihren eigenen Kreis, der Ihnen auch wirklich guttut, und das, worauf Sie nicht produktiv antworten können, ignorieren Sie getrost. Achtsamkeit und Gelassenheit stellen sich dann ganz automatisch ein. Was Goethe konnte, können wir schon lange.

Ich bin überzeugt, dass Weimar, Goethe und zur Not auch der Jakobsweg mit der richtigen Einstellung und Perspektive, die Sie eben nicht in schimmernden Schaukästen sehen können, die Welt und das eigene Leben bereits ein wenig besser machen könnten.

Für alles andere Schöne da draußen wenden Sie sich sehr gerne an die „Gesellschaft der Bibliophilen“. Wir sehen uns dort.

Sebastian Eichenberg

Nette Gesellschaft: Hinten Goethe-Haus, vorne Eiskafee, kein Handy, keine Zeitung – was will man mehr? (OK, für das Foto hatte ich natürlich auch das Handy in der Hand, daher kann es da ja auch gar nicht liegen… Aber nach dem Bild sah es auf dem Tisch genauso aus!)