„Die ‚großen Bücher‘ zu lesen scheint eine merkwürdige Lösung der Midlife-Crisis zu sein oder meiner Identitätskrise, oder was immer es war. Warum wollte ich nicht reisen oder Elefanten jagen? Junge Mädchen aufreißen? In einem Kloster leben? Das sind, glaube ich, die traditionellen Methoden, mit solchen Problemen fertig zu werden – zumindest für Männer. Aber wenn ich schon das Abenteuer suchte, dann wollte ich es auf eine Weise tun, die für mich Sinn machte. Ernsthaft lesen, dachte ich, könnte eine Möglichkeit sein, sich nicht mehr der Medienkultur zu unterwerfen, eine Möglichkeit, die wahren Konturen wieder zu finden.“
Keine Angst, liebe Leser, hier schreibt nicht der Antiquar persönlich, sondern David Denby in seinem großartigen Buch „Große Bücher – Meine Abenteuer mit Meisterwerken aus drei Jahrtausenden“ (btb, 2001).
Lesen als Bewältigung der Midlife-Crisis? Aber ja! Auch wenn mich die Krise persönlich (noch) nicht gepackt hat, kann ich das Argument jetzt schon nachvollziehen. Fordern Sie sich selbst heraus, auch ohne Krise!
Wenn ich mich in der digitalen Welt so umschaue, sehe ich jede Woche mindestens irgendwo eine gestartete Challenge. Am bekanntesten (und größten) war wohl die „Ice Bucket Challenge“ von 2014, die auf ALS aufmerksam machen wollte. Ansonsten beschränken sich die heutigen Challenges ja auf persönliche Fitness, Meditation, eine Woche lang Verzicht auf Industriezucker, alle Simpsons-Folgen an einem Stück schauen, usw.
Aber eine „Lesen-Challenge“? Der Redakteur A.J. Jacobs hat zwei unterhaltsame Bücher über seine persönlichen Challenges geschrieben: „Die Bibel & Ich. Von einem, der auszog, das Buch der Bücher wörtlich zu nehmen“ und „Britannica & Ich. Von einem, der auszog, der klügste Mensch der Welt zu werden“. Gerade im letzteren Band kann man Jacobs in heiterer Form dabei begleiten, sein Vorhaben umzusetzen, die gesamte Encyclopaedia Britannica von A-Z durchzulesen, ohne (komplett) durchzudrehen.
Nun werden sich vielleicht einige zu Recht fragen, warum man sowas machen sollte. Lesen ist doch auch ein Hobby, welches man mehr oder weniger ohnehin regelmäßig betreibt, warum sollte man also daraus eine extra Challenge machen?
Los geht’s
Die Antwort, wie so oft, kann darauf nur lauten: Warum sollte man sowas nicht mal machen? Überraschen Sie sich selbst mit einem Leseprojekt, dass Sie herausfordert, Sie in die Knie zwingt, Sie wieder aufstehen lässt. Eines, das verzweifelt, erheitert, am Ende einer Katharsis gleichkommt. Die Ulysses im einen Zuge durchlesen, z.B., gefolgt von Zettels Traum (erst ohne, dann nochmal mit den Anmerkungen). Danach Prousts auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder Balzacs Menschliche Komödie. Alle Karl May Bände. Erstellen Sie einen Stammbaum aller Personen in Tolstois Krieg und Frieden. Lesen Sie Kindlers Literaturlexikon von A-Z. Und wenn Sie stecken bleiben oder Rat brauchen, kein Problem: besuchen Sie den nächsten Antiquar Ihres Vertrauens und fragen Sie um Hilfe (die Fortgeschrittenen fragen bitte um Beistand).
Sogar ich werde immer mal wieder im Laden gefragt, ob ich denn auch alle Bücher gelesen habe, die hier so stehen. Meistens ist die Frage auch ernst gemeint. Elegant kann ich mich dann aus der Affäre ziehen, wenn ich sage, dass mich leider nicht alle Titel so sehr interessieren – ich sie aber natürlich für die Kunden im Bestand haben muss! Doch zugegebenermaßen habe ich meine private Bibliothek auch nicht ganz gelesen. Trotzdem kommen immer neue Bücher hinzu. Damit ist nun Schluss. Mein Projekt lautet ab sofort, dass ich alle meine Bände lese, dabei gnadenlos aussortiere, über Altes den Kopf schüttele, Neues entdecke, Altes neu entdecke, Neues irgendwie alt finde und am Ende darüber den Kopf schüttele.
Äh, wie war das? Es scheint, die Challenge fordert mich schon geistig heraus, bevor es überhaupt los geht? Na gut, gern. Los geht’s.
Sebastian Eichenberg
PS: Falls sich jemand die Encyclopaedia Britannica vornehmen will: Ich habe noch eine 14. Auflage (1929-32) auf Lager. Bei Interesse bitte melden. Scheint auch ganz gut zu sein, ich habe mal reingelesen…
Ich habe eben Deinen blog gelesen und sehr unterhaltsam gefunden,
Hartmut
per e-mail-anhang folgt eine Ergänzung.
Danke für diese wunderbaren Lesetipps (vor allem Denby)! Allerdings nein, die Encyclopaedia Britannica möchte ich nicht erwerben …
Ich widme mich gerade einem Buch, dass sicher seit rund zehn Jahren bei mir steht – ungelesen, wohlgemerkt, dass ich aber schon immer mal lesen wollte: Ivan Illich «Im Weinberg des Textes». Mit welcher Kenntnis und Akribie hier ein zentraler Text des 12. Jahrhunderts detailreich interpretiert wird! Und in welch poetischer, auch bildgewaltiger Sprache! Also: Nicht verzweifeln angesichts (zu) vieler ungelesener Bücher! Midlifecrisis hin oder her – für jedes Buch kommt die richtige Zeit!
Silvia
Ja, das stimmt wohl.
Vielen Dank für den Hinweis zu Illich – klingt interessant, ich werde ihn auf meine Liste setzen!
Sebastian Eichenberg